Guten Tag Frau Gurevych,
anbei finden Sie die abgetippte und gekürzte Version des Interviews mit
Ihnen. Bitte schauen Sie drüber und geben uns möglichst bald bescheid,
ob Sie noch Änderungen wünschen. Von unserer Seite sind bis zur
Drucklegung noch Rechtschreibkorrekturen möglich.
Desweiteren würden wir gerne auf Ihr Angebot zurückkommen, uns Photos
Ihres Fachgebiets zur Verfügung zu stellen. Liegen die Daten auf einem
Server zur Verfügung oder soll jemand von uns mit einem USB-Stick in
Ihrem Fachgebiet vorbeischauen?
Viele Grüße,
Andreas Marc Klingler
\Titel Iryna Gurevych
\Frage Seit wann sind Sie in Darmstadt?
\Antwort Ich habe meine erste Stelle an der TU vor zweieinhalb Jahren
angetreten, und seit zwei Jahren lebe ich in Darmstadt.
\Frage Wie gefällt Ihnen die Stadt?
\Antwort Ich fühle mich sehr wohl. Meine Tätigkeit hier vereinbare ich
gut mit der Erziehung meiner Tochter, dafür bin ich auch in die
unmittelbare Nähe der Uni gezogen. Darmstadt verdient auch viel Lob im
Hinblick auf die Kinderbetreuung. Früher, als ich noch in Heidelberg
gewohnt habe, war die Situation viel schlechter.
\Frage Sie haben 1998 Ihr Diplom in deutscher und englischer Linguistik
gemacht. Wie sind Sie anschließend zur Informatik gekommen?
\Antwort Ich habe im Anschluss an mein Studium ein Graduiertenstipendium
vom Deutschen Akademischen Austauschdienst bekommen und habe mich dann
für das Fach Computerlinguistik an der Universität Duisburg-Essen
entschieden, welches an der Schnittstelle zwischen Sprachwissenschaften
bzw. angewandter Lingustik und der Informatik angesiedelt ist.
Dementsprechend habe ich eine Doktorarbeit auf diesem Gebiet
geschrieben. Während meiner Promotion habe ich ein Stellenangebot am
European Media Lab (ELM) bekommen, einem Forschungsinstitut für
angewandte Informatik in Heidelberg. Diese Stelle habe ich angenommen,
sodass ich anschließend viereinhalb Jahre in der angewandten Informatik
geforscht und gearbeitet habe. In der Zeit habe ich mich dann auch
ziemlich stark von der angewandten Linguistik in die Richtung angewandte
Informatik und Sprachverarbeitung entwickelt.
\Frage In der Ukraine haben Sie mit 17 Ihr Abitur gemacht - das ist
erstaunlich früh.
\Antwort Das ist korrekt, das liegt aber nicht daran, dass ich
überdurchschnitlich gut war, sondern dass das ukrainische Schulsystem
standardisiert ist. Als ich die Schule besuchte, hat man zehn Jahre bis
zum deutschen Abitur gebraucht - mit sieben eingeschult, mit siebzehn
fertig, das ist ganz normal für die Ukraine.
\Frage Für das deutsche System ist es völlig ungewohnt, dass man mit 21
das Diplom macht. Worin sehen Sie weitere große Unterschiede zwischen
den Bildungssystemen beider Länder?
\Antwort In der Ukraine ist das ganze System stark verschult. Das gilt
schon für die Schule, in der man nur sehr wenige Wahlmöglichkeiten hat,
im Gegensatz zum deutschen Gymnasium. Vom Staat wird viel vorgegeben,
sodass alle Schulen in der Ukraine die gleichen Inhalte abdecken. An der
Universität ist es so ähnlich wie man es von Frankreich her kennt. Die
Studieninhalte für bestimme Fächer sind sehr standardisiert.
Dementsprechend wird man von einem Studienjahr ins nächste nach
entsprechenden Prüfungen quasi "versetzt". In den meisten Fällen
studieren die Leute fünf Jahre, weil die Studienprogramme so konzipiert
sind.
\Frage Das heißt aber auch, wenn man ein Jahr nicht schafft, wird man
nicht versetzt?
\Antwort Genau, dann wiederholt man das Jahr.
\Frage Wie sieht dann das Leben neben der Uni aus? Gibt es viele Vereine
oder bleibt dafür keine Zeit?
\Antwort Dafür bleibt nicht viel Zeit. Bei mir hat der Unterricht
täglich von 8:30 bis 16 Uhr gedauert, dann musste man noch viele Dinge
für den nächsten Tag vorbereiten. Neben dem Studium zu arbeiten ist auch
eher unüblich. Die Studenten sind ja viel jünger, da ist es noch stark
verbreitet, dass das Studium von den Eltern finanziert wird. Das ist
kein Zeichen von Unselbständigkeit, aber um das Studium in zehn
Semestern zu schaffen, muss man entsprechend viel arbeiten.
\Frage Was war Ihr Lieblingsfach im Studium?
\Antwort Mich haben schon immer Themen wie die Verbindung zwischen
Linguistik und dem Computer interessiert. Ich muss dazu sagen, dass mein
Studium schon zehn Jahre zurück liegt. Damals war der Zugang zum
Internet oder Büchern schwieriger. Im Deutschunterricht hatten wir
Lehrbücher aus den 1960ern mit kommunistischen Texten. In machen Fächern
musten wir uns auch ein Buch zu dritt teilen. Das hat sich mittlerweile
aber verbessert.
Irgendwann bin ich auf das Thema ''Computer-assisted language learning''
gekommen. Das hat mich fasziniert, weil es in der Ukraine kaum bekannt
war. Durch Internetrecherche habe ich erfahren, dass es das Fach
Computerlinguistik an der Universität Duisburg-Essen gibt. Bereits
während des Studiums kam ich auf eigenes Risiko für drei Monate nach
Duisburg, um Kontakte zum Lehrstuhl zu knüpfen und erste Kurse zu
besuchen. Per Fernstudium habe ich das Fach dann weiter belegt: Die
Dozenten haben mir die Vorlesungsunterlagen per E-Mail geschickt, ich
habe Übungen per E-Mail zurückgeschickt und so viele Scheine machen
können.
\Frage Wie sieht der Frauenanteil in naturwissenschaftlichen Fächern
aus?
\Antwort Mein Mann hat Informatik studiert. Dort ist der Anteil an
Frauen deutlich höher als hier in Deutschland. Das hat vielleicht etwas
mit der Geschichte des Landes zu tun. Die Ukraine gehörte ja zur
Sowjetunion, da ging es um eine möglichst große Gleichstellung zwischen
Mann und Frau. Das ist in der Mentalität tief verankert, sodass die
Frauen sich genauso in das Berufsleben und alle möglichen Bereiche
einbringen wie die Männer.
\Frage Was würden Sie den Studenten von heute aus Ihren Erfahrungen
raten?
\Antwort Bei der Betreuung von Studenten am ELM habe ich die Erfahrung
gemacht, dass es wichtig ist, Studenten so früh wie möglich in aktuelle
Informatikprojekte einzubeziehen. Ich kann daher nur empfehlen, sich die
Zeit für Praktika oder als Hilfskraft in einem Projekt zu nehmen, um in
Kontakt zu kommen und über den Tellerrand hinauszuschauen.
\Frage Sie leiten seit März 2007 das Theseus-Projekt. Wie sind Sie dazu
gekommen und was ist dabei Ihre Aufgabe?
\Antwort Bei Theseus handelt es sich um ein besonderes Projekt im
Bereich der semantischen Technologien, das es sowohl in Deutschland als
auch auf französischer Seite gibt. Vor einigen Jahren war das sehr
politisch, um in Europa in einem hochaktuellen Bereich der Informatik,
den semantischen Technologien, eine kritische Masse zu schaffen.
Das Großprojekt Theseus besteht aus mehreren Verbundprojekten, wobei die
Beteiligung der Industrie überdurchschnittlich hoch ist. Nur wenige
deutsche Universitäten nehmen daran teil. Ich persönlich habe in der
Vergangenheit sehr eng mit Prof. Mühlhäuser und dem Fachgebiet
Telekooperation zusammengearbeitet. Wir haben gemeinsam einige Themen
ausgearbeitet, die wir im Rahmen eines Projekts zum ''Internet der
Dienste'' eingereicht haben. Unsere Kooperationspartner fanden die
Vorschläge sehr interessant, und so sind wir in das Projekt aufgenommen
worden.
Heute leiten Prof. Mühlhäuser und ich das Projekt. Unser konkreter
Beitrag besteht in zwei Bereichen. Der eine beschäftigt sich mit der
Suche nach Diensten auf Internetplattformen. Bisher ist die Suche auf
Stichworte beschränkt. Wenn in Dienstbeschreibungen andere Begriffe
auftauchen wie in der Suchanfrage, werden diese nicht gefunden. Für
Benutzer wird dies schnell unübersichtlich. Um Dienste besser vermitteln
zu können, braucht es Mittel der Sprachverarbeitung.
Der zweite große Beitrag besteht darin, dass wir im Internet heute sehr
viele Gemeinschaften von Nutzern sehen können, die spontan entstehen.
Oft schreiben diese Benutzer Bewertungen in Freitextform über diese
Dienste. In diesem Bereich wollen wir die Methoden von Textmining
anwenden, um aus vorliegenden freien Kundenbewertungen Informationen
über Merkmale von Diensten und Meinungen zu extrahieren. Daran arbeitet
meine eigene Forschungsgruppe.
\Frage Welche anderen Aktivitäten verfolgt Ihre Forschungsgruppe?
\Antwort Meine aus zwölf Mitarbeitern bestehende Forschungsgruppe
finanziert sich durch mehrere Drittmittelprojekte. Wir sind dabei auf
Grundlagenforschung im Bereich natürlichsprachlicher Informationssuche
fokussiert. Bei meinem ersten Projekt vor zweieinhalb Jahren haben wir
Bibliotheken erstellt, um Wissen aus gemeinschaftlich erstellten
Wissensquellen im Web zu extrahieren und den Textinhalt zugänglich
machen zu können.
Konkret haben wir Software entwickelt, um Wikipedia und Wiktionary zu
analysieren und daraus Informationen über die Verwandtschaft zweier
Wörter zu extrahieren. Diese Informationen können für Suchmaschinen sehr
hilfreich sein, weil oft nach Dokumenten gesucht wird, die nicht den
genauen Suchbegriff, sondern verwandte Wörter enthalten. Das kann in
verschiedenen Bereichen Anwendung finden.
Ein Projekt beschäftigte sich mit der elektronischen Berufsberatung.
Dabei haben wir ein System entwickelt, in das ein Schüler seinen
Berufswunsch als Freitext eingeben kann und ihm passende Berufe
vorgeschlagen werden.
\Frage Wie sehen Ihre zukünftigen Planungen aus?
\Antwort Ich muss gestehen, dass ich sehr viele Ideen habe. Das ganze
Umfeld an der TU finde ich sehr anregend. Als Ko-Direktorin des
Forschungsschwerpunkts E-Learning habe ich viele Interessen, die darauf
abzielen, die Methoden der Sprachverarbeitung den E-Learning-Systemen
zugänglich zu machen. Weiterhin wurde durch die weitere Verbreitung von
Web 2.0-Technologien das Internet für die "Wisdom of Crowds" geöffnet.
Wer hätte beispielsweise gedacht, dass Wikipedia eine so hohe Qualität
hat, ohne bezahlte Redakteure?
Auf der anderen Seite bringt dies auch neue Herausforderungen mit sich.
Dadurch, dass jeder mitreden kann, hat man auch viele fehlerhafte
Beiträge. Es ist sehr schwer, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Im
genannten Bereich von Kundenbewertungen gibt es viele gezielte
Manipulationsversuche. Hier entstehen neue Forschungsinhalte, wenn
versucht werden muss, Beiträge herauszufiltern, die von der Norm
abweichen. Bei den gegebenen Datenmengen geht das nur noch automatisch.
Außerdem schwebt mir vor, mein ehemaliges Forschungsgebiet der
natürlichsprachlichen Informationssysteme wiederzubeleben. Man kann
dabei nicht nur über Schrift, sondern auch Sprache einen Computer
steuern. Besonders für kleine Geräte bietet gesprochene Sprache eine
bessere Benutzerschnittstelle.
\Frage Welche Lehrveranstaltungen bieten Sie im Wintersemester an?
\Antwort Wir werden eine neue Vorlesung zum thema ''natural language
processing and the web'' anbieten. Worum es geht, sollte aus unseren
Forschungsthemen hervorgehen.
\Frage Welches Vorwissen sollte man dafür haben?
\Antwort Kenntnisse in Algorithmen und Datenstrukturen sind wichtig,
genauso wie Programmierkenntnisse in Java - und Interesse für die
Thematik.
\Frage Zum Schluss möchten wir Ihnen noch einige Satzanfänge nennen, die
Sie vervollständigen dürfen. Informatik ist...
\Antwort ...eine faszinierende Wissenschaft und ein Schlüssel für die
Mensch-Technik-Interaktion.
\Frage Mathematik ist...
\Antwort ...eine tragfähige Grundlage für alles, was man in der
Informatik machen möchte.
\Frage Das Piloty ist...
\Antwort ...ein sehr schöner Arbeitsplatz, wo ich gerne bin.
\Frage Darmstadt ist...
\Antwort ...eine ausgesprochen interessante Arbeitsstätte und eine
schöne Stadt zum Leben.
\Frage Die schönste Programmiersprache ist...
\Antwort ...diejenige, die man gut kann.
\Frage 42 ist...
\Antwort ...hmmm... (Pause) ein Zeitpunkt in meinem Leben, der ziemlich
genau in zehn Jahren liegt und wo ich mir gerne das Interview nochmal
durchlesen würde um zu beurteilen, was daraus geworden ist.
\Frage Frau Gurevych, wir danken Ihnen für das Gespräch.